CAPITALISM KILLS LOVE

CAPITALISM KILLS LOVE

Es war die Zeit des Champions League-Finales. Juventus Turin spielte im Berliner Olympiastadion gegen den FC Barcelona. Meine wichtigsten Kunden kamen deswegen aus Moskau nach Berlin. Ich hatte für sie exzellente VIP- Tickets für das Spiel sowie eine Unterkunft im Hotel „Adlon“ organisiert.
Am Tag davor hatte ich mir aber das Knie verdreht. Das war für mich ein weiterer Beweis für die Richtigkeit der Aussage: „Das, wovor du Angst hast, ziehst du in dein Leben.“
Ich hatte bewusst aufgehört, Fußball zu spielen, weil ich eine Knieverletzung fürchtete. Die Verletzung kam trotzdem. Sie passierte nicht beim Fußball, sondern beim  „speedy Walking“ im Park nahe meiner Wohnung. Ich musste deswegen zuerst im Krankenhaus behandelt werden und danach auf Krücken gehen.
Trotzdem war ich einige Stunden vor meinen Kunden im „Adlon“ angekommen, um sicher zu sein, dass eine Flasche Champagner in den Zimmern auf sie wartete. Sie mochten das. Einer sagte zu mir, dass Wien seine Lieblingsstadt sei, da er da schon zum Frühstück Champagner serviert bekäme.
Vor zwei Jahren hatte ich diese Gruppe als Kunden bei einem Fußballspiel in Mailand begleitet. Nach dem Spiel hatte ich einen Tisch im „Armani Club“ reserviert. Als wir da feierten, traf ich zufällig eine niederländische Freundin, die als Modell arbeitete. Später schickte sie mir eine SMS mit der Frage:

„Mit was für Vampiren hängst du in deiner freien Zeit herum?“

Das war keine freie Zeit, sondern meine Arbeitszeit und auf diese „Vampiren“  war ich angewiesen, um meinen Lebensunterhalt zu sichern. Jetzt waren sie alle in Berlin.
Die Gruppe bestand aus drei steinreichen Russen. Der eine sah wie die Inkarnation des Teufels aus. Er hieß Ivan und besaß eine Cognacfabrik in Armenien. Der andere war Aleksey. Von ihm wusste ich nur, dass sein Sohn in Monaco studierte. Er redete wenig und nur, wenn er nach etwas gefragt wurde.  Er strahlte eine Mischung aus Gleichgültigkeit und Kälte aus. Das Oberhaupt der Gruppe war Sergey. Ein Mann Ende 40 mit wenig Haaren auf dem Kopf und mit den dunklen, großen Augen eines Ochsen. Sergey bewegte sich langsam und dachte so schnell, dass ich ihm nur mit Mühe folgen konnte. Von ihm wusste ich, dass er im Gasgeschäft tätig war.
Als ich Sergey zum ersten Mal in Moskau traf, war das in seinem privaten Club im Stadtzentrum. Es gab Security. Es gab Kaviar, Champagner und Wodka. Es gab leicht bekleidete, weibliche Bedienungen. Ich aß, trank und lachte mit ihm und seinen Freunden. Ich stellte ihm das Hospitality-Programm der FIFA vor. Das war meine erste Geschäftsreise mit der FIFA Agentur nach Moskau und die Schweizer hatten mich in einem Hotel am Flughafen unterbracht. Sie wussten offensichtlich nicht, dass so eine Distanz – vom Flughafen bis ins Stadtzentrum – in Moskau nur mit einer guten Stunde Autofahrt zu überbrücken war. Vorausgesetzt, dass es keine Staus gab. Doch meistens gab es Staus. In einer Stunde konnte man von Zürich die Hauptstadt der Schweiz, Bern, erreichen. Nach einem ausgiebigen Essen und interessanten Gesprächen entschuldigte ich mich bei meinen russischen Gastgebern dafür, dass ich bald aufbrechen musste, um rechtzeitig zu meinem Hotel zu gelangen.
„Darf ich fragen, wo Sie unterbracht worden sind?“, fragte Sergey höflich.
„Im Holiday Inn am Flughafen Sheremetievo“, antwortete ich.
Sergey schüttelte den Kopf.
„Ich werde nicht zulassen, dass so ein angesehener Gast so eine schlechte und weit entfernte Unterkunft hat“, sagte er, nahm einen Schluck von seinem Glas Champagner und fügte hinzu:
„Ich habe eine Suite in einem der besten Hotels der Stadt. Ritz in Twerskaja. Nicht weit vom Roten Platz entfernt. Ich benutze sie selten. Seien Sie mein Gast. Ich lasse meinen Fahrer Ihre Sachen bringen.“
Ich nahm seine Einladung dankbar an und genoss die restlichen Tage in seiner luxuriösen Hotelsuite.
Ich lernte mit der Zeit, dass es eine Regel gab, die man im Umgang mit diesen Männern berücksichtigen sollte:
Man durfte keine Fragen stellen, was ihre Berufe und Tätigkeitsfelder anging.
Wenn man etwas über ihr Leben erfahren wollte, musste man abwarten, bis sie es einem von alleine erzählten.
In Mailand erzählte mir Sergey, dass er eine private Audienz bei Putin hatte.
„Worüber habt ihr gesprochen?“, verletzte ich die Regel. Er schaute mich kurz an bevor er antwortete:
„Er ließ dir einen schönen Gruß ausrichten.“
Ich wusste nicht viel von ihnen. Ich wusste aber, dass sie ihr Leben in vollen Zügen genossen. Sie reisten viel, speisten in den feinsten Restaurants der Welt und gingen ihrer Leidenschaft nach, bei wichtigen, internationalen Fußballspielen live dabei zu sein.
Neben der Unterkunft und VIP-Tickets musste ich mich auch um das Abendprogramm in Berlin kümmern.
Ich holte sie vom Hotel ab. Geplant war ein Dinner im „Grill Royal“. Das galt als eines der besten Restaurants der Stadt, und ich war mir sicher, dass sie es mögen würden. Im Foyer des Hotels sah ich Ivan wie er mit einem kleinen, dunkelhaarigen Mann etwas besprach. Der kleine Typ gehörte nicht zu der Gruppe. Er war kräftig gebaut und trug eine schwarze Lederjacke.
„Ivan, habt ihr einen Leibwächter dabei?“, fragte ich ihn danach.
„Nein, das ist unser Fahrer“, antwortete er und lächelte mich mit seinen Teufelsaugen an. In Moskau, wo meine Kunden wohnten, war es normal, dass man einen Fahrer hatte, der auch gleichzeitig eine Art Bodyguard war. Ich erinnerte mich an mein erstes Treffen mit Ivan in Moskau. Er lud mich in ein traditionelles, russisches Restaurant ein. Das Essen war köstlich. Die Russen wussten wie man Fleischspieße drehte und nannten sie „Shishliki“. Das Gespräch war interessant. Nach kurzer Zeit duzten wir uns. Ivan freute sich, dass ich aus Bulgarien kam und erwähnte nebenbei, dass er vor 13 Jahren am rumänisch-bulgarischen Grenzübergang mit 13kg Gold erwischt wurde. Es war Mittag und ich merkte gar nicht wie schnell die 2 Stunden vergangen waren, die ich für unseren Business-Lunch eingeplant hatte.
„Ivan, es war mir eine große Freude, mit dir zu speisen, aber ich muss gleich los, um nicht zu meinem nächsten Termin zu spät zu kommen.“
„Wo ist dein nächster Termin?“, fragte er.
Ich nannte ihm die Adresse.
„Kein Problem, mein Fahrer wartet draußen und wir fahren dich hin.“
Ivan war ein schmächtiger Mann. Bestimmt wog er nicht mehr als 60kg und war nicht größer als 160 cm. Seine Augen strahlten, aber mit einer dämonischen Intensität, die ich selten zuvor gesehen hatte. Seine Nase war riesig. Man sollte vorsichtig sein, wenn man ein Angebot vom Teufel bekommt.
Ich bedankte mich höflich und nahm sein Angebot trotzdem an. Als wir draußen waren, musste ich vorne in einen riesigen Jeep mit dunklen Fensterscheiben einsteigen. Neben mir war der Fahrer. Ein riesiger, russischer Bär. Einer dieser vollbärtigen Männer, die man im Westen als Bösewichte in Horror Movies sah. Ich hatte ein komisches Gefühl. Ich spürte, dass wir im Jeep nicht allein waren. Ich drehte mich vorsichtig um. Das, was ich sah, bereitete mir noch mehr Angst. Auf dem hinteren Sitz saßen zwei vollbärtige Männer in Kommando-Uniformen mit Kalaschnikows. Sie beobachteten mich schweigsam. Ich musste schnell handeln.
„Ivan, das ist sehr nett von dir, dass du mich mitnehmen möchtest. In Moskau gibt es so viele Staus, dass ich lieber die U-Bahn nehme. So werde ich schneller am Ziel sein. Aber schönen, herzlichen Dank und bis bald“, sagte ich bevor ich schnell ausstieg und die Tür zuschlug.
Die Wahrheit war, dass ich Angst hatte, dass unterwegs eine Bombe explodieren würde und ich per Zufall Opfer eines Attentats gegen Ivan werden würde.
Menschen, die in Moskau viel Geld hatten, hatten auch viele Feinde. Wenn man mit bewaffneten Leibwächtern herumfuhr, war die Lage mit Sicherheit angespannt. Damals wusste ich nicht, dass Bodyguards zu haben, in Russland einfach eine Art Statussymbol war.
Jetzt waren wir alle zusammen in Berlin. Es durfte nichts schiefgehen.
Wir fuhren zusammen vom Adlon zum Grill Royal. Ich hatte einen Tisch um 21 Uhr reserviert. Zwei Tage zuvor wurde ich vom Restaurant angerufen und mir wurde mitgeteilt, dass unser Tisch erst um 22 Uhr frei sein würde und dass wir mit Wartezeit rechnen müssten. Wir waren um pünktlich 22 Uhr da. Das Restaurant lag direkt am Fluss und ich wusste, dass viele bekannte Menschen dorthin ein und ausgingen.
„CAPITALISM  KILLS LOVE“, stand in Leuchtbuchstaben über dem Haupteingang des Promi-Lokals.
„Was für ein passender Titel für so einen Ort. Es scheint, dass sich die Betreiber nicht so ernst nehmen“, dachte ich mir.
Es war voll. Viele gut gekleidete Menschen warteten draußen auf der Treppe darauf, einen Tisch zu bekommen. Das Wetter war herrlich. Die Sterne leuchteten. Der Wind war warm und roch nach Abenteuer. Berlin gehörte im Sommer zu den besten Städten der Welt. Ich ging so schnell wie ich auf meinen Krücken laufen konnte an der Schlange vorbei in das Restaurant hinein. Eine junge, hübsche Empfangsdame mit strahlenden, grünen Augen begrüßte mich freundlich.
„Wir haben eine Reservierung unter dem Namen Portarsky“, sagte ich zu ihr.
Ihre Haare waren lang und zu einem Zopf geflochten. Sie trug eine dunkle Leinenhose, die ihre sportliche Figur betonte. Sie schaute zusammen mit einer älteren Dame in den Computer und sagte:
„Ich habe Sie gefunden. Portarsky. Ich möchte Sie bitten, sich ein wenig zu gedulden.“
„Bitte lassen Sie uns nicht zu lange warten. Das sind wichtige Partner von mir, die heute aus Moskau angereist sind.“
„Machen Sie sich keine Sorgen“, beruhigte sie mich mit ihrer sanften Stimme.
„Wo ist hier die Toilette?“, fragte ich sie.
„Leider am anderen Ende“, antwortete sie und schaute meine Krücke verständnisvoll an.
Ich ging in Richtung Toilette. Ich war eigentlich bisher nur einmal auf diesen Toiletten. Das war auf einer Fashion Week-Party von einem bekannten, französischen Designer. Damals war die Toilette voll mit knackigen Jungs in knapper Bekleidung und alten Herren, die so aussahen, als ob sie in ihrem Leben ausgesorgt hätten und ihr Geld in Schönheitsoperationen und Solarien Besuchen investieren würden.
„I didn´t see you the last summer in Monte Carlo“, lauschte ich damals ihren Gesprächen beim Stuhlgang und musste mir anhören wie sie Kokain konsumierten.
Jetzt war die Toilette menschenleer. Ich pinkelte in Ruhe und machte mich auf dem Weg zurück. Da sah ich die schöne Empfangsdame an mir vorbeilaufen.
„Ich hoffe, es klappt schnell mit unserem Tisch“, sagte ich zu ihr noch einmal freundlich.
„Eigentlich hatte ich um 21 Uhr reserviert. Vor zwei Tagen wurde ich angerufen und mir wurde gesagt, dass wir um 22 Uhr kommen sollten. Jetzt ist es 22:10 Uhr. Meine Gäste haben es nicht so gerne, wenn sie warten müssen... Bitte beeilen Sie sich!“
„Ich weiß. Ich weiß. Bald sind Sie dran. Geben Sie mir noch 10 Minuten“, sagte sie mit ihrer weichen Stimme und streichelte dabei leicht meine Hand.
Diese Frau wusste wie man mit einer kleinen Berührung die Männer auf ihre Seite bringen konnte. Das galt für mich, aber nicht für meine Russen.
Als ich ihnen die 10 Minuten zusätzlicher Wartezeit übermittelte, waren sie nicht sonderlich verständnisvoll. Sie gehörten nicht zu den Menschen, die gern warten. Ich versuchte die Stimmung aufzulockern.
„Sieht Ihr den Mann am linken Tisch? Das ist ein sehr bekannter Magier. Ich war zweimal auf seinen Shows. Er hypnotisiert Menschen. Sogar eine Bundesligamannschaft hat ihn beauftragt vor einem Spiel ihre Spieler so zu verzaubern, damit sie den Klassenerhalt schaffen und das tat er mit Erfolg –zumindest erzählt er es so in seiner Show...“
Meine Russen schauten den Mann gelangweilt an.
„Sage ihm, wir zahlen gut dafür, dass er für uns schnell einen Tisch auf der Terrasse klar macht“, machte sich Ivan lustig. Aleksey und Sergey standen herum und fanden es nicht witzig.
Wenn man Hunger hatte, konnte die Hypnose wenig helfen. Ich versuchte es noch einmal:
„Und seht Ihr da, am langen Tisch rechts? Da sitzt Thierry Henry. Der Ex- Fußball Star aus Barcelona und Nationalspieler Frankreichs“
Das lenkte sie ein wenig ab. Sie schauten den Franzosen mit Interesse an und nickten zustimmend mit dem Kopf, dass sie ihn erkannt hatten.
„Spielt er jetzt in den USA?“, fragte mich Ivan.
„Keine Ahnung“, antwortete ich.
Ich fragte mich, was diese bekannten Menschen dazu brachte, an Orten zu speisen, wo auch andere bekannte Menschen waren.
War das der Herdentrieb oder der Wunsch, Anerkennung zu genießen und unter sich zu sein?
„Vesselin!“, unterbrach Sergey meine Gedanken und zündete sich langsam eine dicke Zigarre an.
Ich schaute in seine Richtung.
„Müssen wir noch lange warten?“
„Die hübsche Dame meinte, dass wir bald an die Reihe sind, aber wer weiß“, antwortete ich und deutete auf die vielen wartenden Menschen.
Sergey öffnete einen Briefumschlag und gab mir einen 100 Euro-Schein.
„Gib ihr das, bestimmt hilft es“, sagte er.
Ich sollte der Schönheit den Schein übergeben, damit sie uns schnell einen Tisch zuwies. Ich hatte das in Berlin nie gemacht. Man gab in Berlin kein Geld im Voraus. Meistens kam das Trinkgeld am Ende, wenn überhaupt.
Ich steckte die Banknote in meine Hosentasche und ging wieder in das Restaurant hinein. Die hübsche Empfangsdame war damit beschäftigt, andere Gäste zu beruhigen. Sie war offensichtlich im Stress. Ich schaute in meinen Geldbeutel hinein. Ich hatte darin einen 20 Euro-Schein.
„Das würde bestimmt auch helfen“, dachte ich.
Ich holte den Schein heraus und steckte den 100 Euro-Schein an seine Stelle in mein Portemonnaie.
„Mit 20 Euro konnte man in Berlin dreimal zu Mittag essen. Das wird bestimmt Wirkung zeigen“, dachte ich mir.
Als die Schönheit in meine Richtung kam, überreichte ich ihr mit einem Händedruck die 20 Euro, ohne dass es jemand sehen konnte.
„Das sind wichtige Partner für mich. Bitte kümmern Sie sich schnell um unseren Tisch“
Sie nahm die Banknote und versteckte sie schnell in ihrer Hosentasche. Dabei sagte sie nicht einmal „danke“, sondern nur „ok“.
Offensichtlich war sie daran gewöhnt, solche Trinkgelder anzunehmen.
Es vergingen weitere 15 Minuten. Sergey wurde nervös und rauchte seine zweite Zigarre. Aleksey und Ivan fingen an, im Restaurant herum zu laufen und im Alleingang Ausschau nach freien Tischen zu halten.
„Es gibt einen freien Tisch auf der Terrasse.“, sagte Ivan zu mir.
„Für wie viel Leute?“, fragte ich zurück.
„Für 6“
„Perfekt“, sagte ich und ging wieder zu der Empfangsdame. Sie schaute auf einen Bildschirm an der Bar-Theke. An ihrer Seite stand ein blonder Typ, der offensichtlich ihr Boss war.
Es gab etwas Arrogantes in seinem Aussehen. Ich wusste in diesem Moment nicht, ob es die Sommerschuhe waren, die er ohne Socken trug, sein Lacoste-T-Shirt in rosa oder sein Haarschnitt, der – obwohl kurz – perfekt gekämmt war.
„Dürfen wir uns an den freien Tisch dort auf der Terrasse setzen?“, fragte ich und zeigte ihnen den Tisch.
„Keine Chance“, erwiderte der Blonde mit einem selbstzufriedenen Lächeln.
„Diesen Tisch halten wir für unsere Stammgäste frei. Sie haben immer Vorrang“, erklärte er mir.
Sein Parfüm war süß und kam mir bekannt vor. War das nicht „Angel“ von Thierry Mugler? Das war doch ein Frauenduft. Dieser Typ war mir vom Anfang an nicht sympathisch. Seine Worte bestätigten sofort meinen ersten Eindruck.
„Da sitzt aber keiner und wir warten schon lange“, versuchte ich sachlich zu bleiben.
„Das ist einfach so wie ich eben gesagt habe. Keine Diskussion“, antwortete er in einer höheren Stimmlage und schaute mich kurz an. Er redete mit mir, als ob er mein Vorgesetzter wäre.
„Herr Ober“, versuchte ich ihn an seine Rolle zu erinnern.
„Eigentlich hatte ich um 21 Uhr bei Ihnen einen Tisch reserviert. Vor zwei Tagen wurde mir telefonisch mitgeteilt, dass wir erst um 22 Uhr kommen sollten. Jetzt ist es 22:30 Uhr. Sie sehen, ich stehe auf Krücken. Meine Partner sind hoch angesehene Persönlichkeiten. Ihr Restaurant hat ein gutes Ansehen. Da sollte doch ein Tisch möglich sein.“
„Das kann nichts an unseren Richtlinien ändern“, antwortete der Blonde sich seines Sieges bewusst. Ich merkte in seiner Stimme, dass er uns am liebsten aus dem Restaurant weg haben wollte.
Ivan stand neben mir. Er verstand kein Deutsch, aber er spürte die Energie unseres Gesprächs. Wenn man in einer 14 Millionen Stadt wie Moskau lebte, wurde man täglich mit so vielen unterschiedlichen Energien konfrontiert, dass man zwangsweise ein Gefühl für die Menschen und ihre Ausstrahlungen entwickelte.
Er bat mich zu übersetzen.
Als ich das tat, sah ich die Wut in ihm aufsteigen. Seine Augen bekamen einen kalten Glanz. Das war der Blick eines Menschen, der im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen ging.
„Wären wir in Moskau, wäre der Typ in akuter Lebensgefahr“, dachte ich und erinnerte mich an die bewaffneten Kommandoleute in seinem Auto. Der Blonde hatte richtig Glück, dass wir in Berlin waren.
Doch ich täuschte mich.
Ich sah wie Ivan aus seiner Hosentasche langsam ein großes, schwarzes Ding herauszog. Mein Magen drehte sich um.
Ich dachte, es wäre eine Pistole.
Meine Knie wurden bei der Vorstellung einer Hinrichtung vor meinen Augen weich. Bei einem Mord dabei zu sein, war das letzte, was ich mir im Leben wünschte. Ich sah mich auf der Anklagebank eines Berliner Gerichts mit dem Vorwurf  der Beihilfe zum Mord konfrontiert. Dann stellte ich fest, dass das schwarze Ding keine Pistole, sondern ein riesiges Handy war.  Ein Seufzer der Erleichterung kam über meine Lippen. Ivan sagte nichts. Mit einem Blick voller Entschlossenheit näherte er sich dem Restaurant-Manager genauso wie sich eine Katze einer Taube vor ihrem tödlichen Angriff nähert. Dann hob er sein Handy hoch und hielt es 40 cm vor seinem Kopf für einige Sekunden fest. Als das Handy 20 cm vor den Augen des Managers stand, drückte er ab. Er schoss nur ein Bild von ihm, aber es fühlte sich so an, als ob er ihn erschossen hätte.
Er machte von dem Blonden eine Art russisches Selfie.
Eine Sprache, die man nicht missverstehen konnte.
Der Restaurant-Manager reagierte zuerst nicht. Sein Gesicht wurde danach leichenblas und seine Unterlippe zitterte. Er machte zuerst unsicher einen Schritt zurück. Er merkte schnell, dass er sich unbeliebt gemacht hatte und dass seine Kontrahenten unberechenbar waren. Dann riss er sich zusammen und kam mit einem aufgesetzten Lächeln auf uns zu.
Er sagte mit einer vertrauten, leisen Stimme:
„Ich gebe Ihnen einen anderen Tisch auf der Terrasse. Bitte übersetzen Sie!“
 Ich nahm seinen Mundgeruch wahr.
„Die Gäste haben bereits gezahlt und gehen bald. Sie gehen bestimmt bald... Sie können dann ihren Tisch haben.“
„Herr Ober, Sie haben heute bestimmte Grenzen des guten Verhaltens überschritten.“, antwortete ich mit möglichst strenger Stimme. Ich sah immer noch die Angst in seinen Augen, als er Ivan anschaute. Unsere Rollen hatten sich innerhalb einiger Sekunden getauscht. Es fühlte sich so an, als ob wir das Spiel gewonnen hätten. Es war Zeit, dass ich ihn für seine Arroganz bestrafte.
So packte ich ihn mit meiner rechten Hand unter seinem Oberarm. Ich packte ihn nicht zu fest, aber so hoch, dass ich mit meiner Hand fast seine Achsenhöhle erreichte. Ich wusste, wie unangenehm sich das anfühlte und flüsterte ihm ins Ohr:
„Das könnte ein nicht so glückliches Ende für Sie haben, Herr Ober.“
„Komm, Vesselin, wir gehen!“, hörte ich von draußen die Stimme von Sergey, der alles beobachtet hatte.
„Der Ober sagt, dass wir bald einen Tisch draußen bekommen“, versuchte ich ihn auf Russisch zu überreden.
„Es reicht“, sagte Sergey und stand auf.
Für den russischen Stolz war das zu viel.
Wir gingen.
Ich überlegte kurz, ob ich zurück zu der Schönheit gehen sollte, um meine 20 Euro zurück zu verlangen, aber ich hatte irgendwie keine Lust dazu. Wir gingen die Treppen hinauf. Die Nacht war warm. Der Himmel war voller Sterne. Sergey schaute mich mit seinen Ochsenaugen nachdenklich an und sagte:
„Vesselin, man kannte dich da nicht.“
Er fällte sein vernichtendes Urteil. Und er hatte Recht, man kannte mich dort nicht.
Die Neon-Buchstaben leuchteten über dem Haupteingang des Restaurants heller als die Sterne. Ich schaute mir das noch einmal an.

„CAPITALISM  KILLS LOVE“

Die Betreiber dieses Restaurants hatten es mit dem Spruch ernst gemeint.
Eine halbe Stunde später saßen wir im Garten eines feinen, italienischen Restaurants im Grunewald. Am Tisch gab es Champagner und verschiedene Sorten gegrillten Fisch und Scampi. Rund um uns herum liefen drei Kellner mit weißen Hemden. Am Tisch nebenan saßen einige Spieler der deutschen Nationalmannschaft. Der Fahrer, den ich zuerst als Leibwächter meiner Russen gehalten hatte, hatte das mit einem kurzen Telefonat organisiert und damit meine Rolle als Organisator übernommen.

Kommentare

  1. ganz gr0ßes Kino! es ist wie eine andere Welt für mich, was du schreibst. Aber sehr spannend und gut geschrieben,Veso! thank you for sharing!

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